Durch den Sport zurück ins Leben

2021 war Andreas Lehmann die Nummer eins der deutschen Amputierten-Fußball-Nationalmannschaft, die bei der EM in Polen den neunten Platz belegte. Foto: Ralf Kuckuck/DAF.

Andreas Lehmann verlor mit 18 Jahren seinen linken Arm. Heute spielt er mit TeBe in der Amputierten-Fußball-Bundesliga und der Nationalmannschaft.

Andreas Lehmann hat ein klares Ziel vor Augen: Er möchte Deutscher Meister werden. Mit seinem Klub, Tennis Borussia Berlin, spielt er in der Amputierten-Fußball-Bundesliga. Der offizielle Spielbetrieb in der Sportart für Menschen mit Amputationen oder Dysmelie (angeborene Fehlbildung von Gliedmaßen) startete im September 2021 in seine erste Saison. Neben TeBe, die gemeinsam mit dem Hamburger SV und den Sportfreunden Braunschweig die Spielgemeinschaft Nord-Ost bilden, gehören Anpfiff Hoffenheim und Fortuna Düsseldorf zu den drei Teams, die die Deutsche Meisterschaft unter sich ausspielen. In der ersten Saison ging der Titel nach Hoffenheim, die SG Nord-Ost belegte Rang drei.

„Perspektivisch ist das Ziel, weitere Standorte für die Amputierten-Fußball-Bundesliga zu gewinnen und die Sportart bekannter zu machen“, erklärt Andreas Lehmann. „Ein erster wichtiger Schritt auf diesem Weg ist es, sowohl in Braunschweig und Hamburg als auch bei uns in Berlin weitere Spieler:innen für unsere Sportart zu begeistern, damit wir einen regelmäßigeren Trainingsbetrieb aufbauen und die einzelnen Standorte der Spielgemeinschaft zukünftig eigenständig am Spielbetrieb teilnehmen können.“ Aktuell kommen die Teammitglieder der SG Nord-Ost höchstens einmal im Monat zum gemeinsamen Kicken zusammen. Häufigere Treffen sind aufgrund der großen Entfernungen zwischen den Städten kaum umsetzbar.

Plötzlich ging alles ganz schnell: Bundesliga und EM in wenigen Monaten

Gespielt wird Amputierten-Fußball einbeinig auf Gehhilfen und ohne Prothesen. Voraussetzung für Feldspieler:innen ist eine Beinamputation oder eine Beinverkürzung. Torhüter:innen dürfen auf beiden Beinen, dafür jedoch nur mit einer Armamputation oder Armfehlbildung antreten. Der Ball darf weder mit den Gehhilfen noch mit den verkürzten Gliedmaßen gespielt werden. International werden die Begegnungen im Sieben gegen Sieben auf Kleinfeld und ohne Abseits ausgetragen. In der Amputierten-Fußball-Bundesliga wird mit vier Feldspieler:innen und einem:r Torhüter:in gespielt. Ansonsten unterscheidet sich das Regelwerk der Fußballvariante nicht von ihrem Vorbild.

Andreas Lehmann ist mit der Sportart erstmals 2017 in Berührung gekommen. „Das war bei einem Turnier bei den Sportfreunden Braunschweig. Damals gab es im Osten Deutschlands noch kein Angebot für Amputierten-Fußball, ich habe aber gleich gesagt: ‚Wenn ihr in Berlin einen Stützpunkt aufbaut, bin ich dabei!‘“ Vier Jahre später ging plötzlich alles ganz schnell: Tennis Borussia baute ein Team auf, dem sich der aus Hohenbrück stammende Lehmann als Torhüter anschloss. Im September 2021 spielte er mit der SG Nord-Ost in der neugegründeten Bundesliga und war die Nummer eins der deutschen Nationalmannschaft, die an der offiziellen Europameisterschaft in Polen teilnahm und dort den neunten Platz belegte.

Unfall und Amputation mit 18 Jahren

Die Leidenschaft für den Fußball entdeckte der heute 43-Jährige bereits in seiner Kindheit, auch wenn er erst relativ spät zum Vereinsfußball fand: „Wir haben bei uns auf dem Dorf im Spreewald schon immer nach der Schule mit Freunden gekickt. In meinen ersten Fußballverein, die SG Grün-Weiß Schlepzig, bin ich aber erst mit 16 Jahren eingetreten, als ich meinen Mopedführerschein gemacht hatte und selbständig zum Training fahren konnte.“

Seinen amputierten, linken Arm hatte Lehmann zu diesem Zeitpunkt noch. Über seinen Unfall, der ihm mit 18 Jahren wiederfuhr, spricht er heute ganz offen, ohne Verbitterung oder Wehmut in der Stimme: „Wir waren mit dem Auto auf dem Nachhauseweg von einer Party und ich musste austreten.“ Was dann geschah, weiß er auch nur aus Erzählungen: „Anstatt wieder einzusteigen, bin ich losgerannt – querfeldein über eine Wiese. Dann stand dort ein Strommast, auf den ich bis auf zwölf Meter hochgeklettert bin. Ob ich die Leitung angefasst habe oder ein Funke durch die Feuchtigkeit übergesprungen ist, kann niemand mit Sicherheit sagen. Auf jeden Fall ist der Strom durch den Arm in meinen Körper übergegangen und ich bin die zwölf Meter wieder heruntergefallen.“ Sein Arm erlitt aufgrund des Starkstroms erhebliche Verbrennungen und musste im Krankenhaus amputiert werden. Trotzdem spricht Lehmann heute von „Glück im Unglück“, dass er damals mit dem Leben davonkam.

Durch den Sport zurück ins Leben

Für den jungen Erwachsenen begann mit der Reha ein langer Prozess der Verarbeitung und Neuorientierung. Die Ausbildung zum Maurer, die er kurz vor dem Unfall begonnen hatte, konnte er nicht fortsetzen und schulte zum Mediengestalter um. „Nach der Amputation gab es eine Phase, in der ich zu nichts zu gebrauchen war. Da hat sich für mich alles scheiße angefühlt“, erklärt Lehmann. Über mehrere Bürojobs gelangt er Jahre später nach Berlin, wo ihn die Diagnose einer vererbten Bein- und Beckenthrombose zunächst zusätzlich zurückwirft.

Auf den Rat seines Arztes hin, sportlich aktiver zu sein und lange Sitzzeiten zu vermeiden, richtet Andreas Lehmann sein Leben komplett neu aus: Er absolviert eine Umschulung zum ärztlich geprüften Personaltrainer und beginnt im Fitnessstudio zu arbeiten. Nicht nur beruflich, sondern auch privat wird der Sport in den Folgejahren immer mehr zum Lebensmittelpunkt des Brandenburgers. Er verfolgt den Traum von der Teilnahme an den Paralympischen Spielen, probiert verschiedene Leichtathletikdisziplinen und Segeln aus. Er entdeckt schließlich sein Talent für den Speerwurf und schleudert das Sportgerät bei den Para-Europameisterschaften 2018 über 40 Meter weit, was ihm die Bronze-Medaille einbringt. Den Traum von den Paralympics hat sich Lehmann bis heute (noch) nicht erfüllt, aber der Sport hat ihm die Zuversicht zurückgegeben, mit Fleiß und dem Glauben an sich selbst alles erreichen zu können.

Rechtsverteidiger in der Kreisliga, Torwart in der Bundesliga

Auch zum Fußball hat Andreas Lehmann nach seinem Unfall zurückgefunden. Als Rechtsverteidiger und rechter Außenbahnspieler spielte er zunächst wieder für die SG Grün-Weiß Schlepzig und später in Berlin bei Medizin Friedrichshain. „Anfangs war es etwas holprig, da ich beim Laufen mit nur einem Arm mein Gleichgewicht finden musste. Daran gewöhnt man sich aber mit der Zeit“, erklärt er. Blöde Sprüche habe er in der Regel nicht abbekommen, erzählt Lehmann. Nur beim Einwurf kam es ab und an zu Protesten von Seiten der gegnerischen Teams: „Durch das Speerwerfen verfüge ich über ziemlich viel Kraft und kann den Ball auch mit nur einem Arm von der Seitenlinie bis in den Strafraum werfen. Da kamen dann schon mal Rufe wie ‚falscher Einwurf‘ oder Nachfragen beim Schiedsrichter, ‚ob ich das denn dürfe, mit nur einem Arm einwerfen?‘“

Er darf einwerfen und tut dies auch wieder für die SG Grün-Weiß Schlepzig in der Kreisliga, denn der 43-Jährige ist mittlerweile in seine Heimat, den Spreewald, zurückgezogen. Mit Tennis Borussia Berlin wird er in diesem Jahr in seine zweite Saison in der Amputierten-Fußball-Bundesliga gehen. Wer mit Andreas Lehmann spricht, weiß, dass er an Wettbewerben nicht nur teilnehmen, sondern unbedingt gewinnen will. Das Ziel ist daher klar: die deutsche Meisterschaft.

Das Amputierten-Fußball-Team von TeBe ist auch weiterhin auf der Suche nach Verstärkung. Interessierte Spieler:innen, die den Sport ausprobieren wollen, können sich per E-Mail unter amputierte@tebe.de melden.

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